Historie und Kritik des Aufbaus, Perspektiven

Historie

Das Projekt »Gravitationsdrehwaage« an der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule in Darmstadt begann im Herbst 1996 mit der Bestellung eines Drehwaagenmodells der Firma Leybold. In der Begründung der damaligen Antragsteller hieß es:

»Aufgrund der technologischen Entwicklung besteht heute die Möglichkeit, Gravitations­drehwaagen (wie die der Firma Leybold) zu produzieren, die es ermöglichen, das Gravitationsgesetz auch bei relativ kleinen Massen im Unterricht anschaulich zu demonstrieren. Da das Gravitationsgesetz nicht nur in der mechanischen Theorie einen zentralen Stellenwert einnimmt, sondern auch für die Entwicklung der elektrischen Theorie von grundlegender Bedeutung ist, wäre die Anschaffung einer solchen Drehwaage im Hinblick auf eine anschauliche Darstellung dieses Gesetzes sowohl für den Physikunterricht als auch für den Unterricht im Lernbereich 'Grundlagen der Elektrotechnik' in allen Schulformen der HEMS ein didaktischer Gewinn und würde zugleich methodische Varianten zur Darstellung dieses grundlegenden Themas eröffnen, die über die gegenwärtigen Möglichkeiten deutlich hinausgehen. So ließen sich beispielsweise technologisch akzentuierte Vergleiche mit der bereits vor­ha­n­denen elektrischen Drehwaage zur Demonstration des Coulombschen Gesetzes ebenso anschaulich realisieren wie die computerunterstützte Messung extrem geringer Kräfte sowie eine äußerst präzise experimentelle Bestimmung der Gravitationskonstanten in Verbindung mit der ebenfalls bereits vorhandenen PC-Ausstattung.«

Darmstadt, 26. September 1996


Unterschätzt worden war bei dieser didaktischen Zielsetzung die außer­ordent­liche Berührungs­empfind­lichkeit einer solchen Gravitationsdrehwaage. Wir hatten zwar unterrichtspraktische Erfahrungen mit einer elektrischen Drehwaage (»Coulombsche Drehwaage«). Allerdings waren die hier wirksamen elek­tri­schen Kräfte deutlich größer als die durch Gravitation hervorgerufenen und mit der mechanischen Gravitationsdrehwaage messbaren Kräfte. Zur Erfassung und Registrierung solch kleiner Kräfte in der Größenordnung von Nano-Newton musste eine solche Waage sehr viel empfindlicher sein als eine Coulomb-Drehwaage. Dies bedeutete aber auch, dass ihres Empfindlichkeit gegenüber Erschütterungen um ein Vielfaches höher war. So erwies sich dieses Gerät schon sehr bald für Demon­strations­versuche im Klassensaal als völlig ungeeignet. Wegen der außerordentlichen Störanfälligkeit durch mecha­nische und thermodynamische Einflüsse konnte diese Gravitationswaage nicht wie üblich auf einem Experi­men­tier­wagen aufgebaut, vom Vorbereitungs- und Sammlungsraum in den Klassen­saal geschoben und dort im Experimentalunterricht als Demonstrations­versuch gezeigt werden.

Daher haben wir uns gegen Ende der 1990er Jahre entschlossen, die Gravitationsdrehwaage in einem Sammlungsraum (Raum 311) auf einer Beton­säule fest zu installieren. Zuvor wurde die Gravitations­waage der Firma Leybold so umgebaut, dass der Trägerarm mit den als Feldmassen dienenden großen Kugeln mit Hilfe eines Schrittmotors in die jeweils andere Position umlagert werden konnte. Die Steuerung des Schrittmotors erfolgte mit einer handelsüblichen Infrarot-Fernbedienung.


Mit dem Aufbau der Gravitationsdrehwaage in dieser Form, d.h. fest montiert und berührungslos steuerbar über eine Infrarot-Fernbedienung, sollte zunächst lediglich die jedes Mal langwierige, und was Erschütterungen angeht, äußerst kritische Einrichtung des Versuchs für den Physikunterricht eingespart werden. Was dieses Ziel angeht, so lief dieser Versuch ab 1999 über 10 Jahre in einem unserer Physik-Sammlungsräume (Raum 311) nach einmaliger Justierung und exakter Positionierung des Laserstrahls auf der aus Kartonpapier selbstgefertigten und an der gegenüberliegenden Wand befestigten Skala ohne Fehl und Tadel, d.h. ohne jede weitere Nachjustierung, und war jederzeit verfügbar, die 24-stündige Auspendelphase mal ausgenommen. Dokumentiert wurde die Versuchs­anordnung mit Fotos, Erläuterungen und Zeichnungen in bescheidenem Umfang auf der damaligen Homepage der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule. Als diese Homepage in einem landesweiten Wettbewerb des hessischen Unternehmerverbandes den 2. Platz des »Innovationspreises Berufliche Schulen 2004« belegte, fand das Gravitationsdrehwaagen-Projekt erstmals auch eine landesweite Beachtung. 

Der Versuch sollte eine Demonstration der Massenanziehung erlauben und zusätzlich auch eine Ermittlung der Gravitationskonstanten - ohne Fehlerbetrachtung. Die Versuche ergaben einen Wert für die Gravitationskonstante von ca. 6 x 10 EXP(-11) Nm²/kg², der tatsächlich in der Größenordnung der Gravitationskonstanten liegt. Mehr lässt sich da, ohne eine eingehende und recht schwierige Fehlerbetrachtung des Messvorgangs nicht sagen. Der genaue Wert der Gravitationskonstanten kann auf der Webseite der PTB Braunschweig in Erfahrung gebracht werden. 

Die zur Positionierung der beiden 1,5 kg schweren Feldmassen erforderliche Motorsteuerung mittels Schrittmotor, die Steuerung des Lasers (ein/aus) und die Infrarot-Steuerung mittels handelsüblicher Fernbedienung  wurden mit Technologien realisiert, die Gegenstand des Unterrichts waren und damit auch von zumindest einem Teil der Schüler verstanden werden konnten.  

Didaktisches Ziel war es also, einerseits einen Versuch zur Demonstration der Gravitation für den Physik­unterricht verfügbar zu machen, und andererseits über einen Gegenstand zu verfügen, an dem man moderne Steuerungs­technologien (Schrittmotorsteuerung, Mikrocontroller mit I2C-Bus und IR-Fernbedienung) sinnvoll demonstrieren konnte. 

Entscheidend war dabei die Unterstützung der Fa. Lipowsky Industrieelektronik, Darmstadt, bezüglich der Mikrocontrollertechnik und der TU Darmstadt, was den mechanischen Aufbau angeht. Ohne diese Unterstützung wäre das Projekt gar nicht machbar gewesen. Die Fa. Liposwsky hatte bereits zu dieser Zeit, lange vor dem Jahr 2000, ein 8051 basiertes Mikrocontrollersystem auf dem Markt, welches neben der Controllerhardware, Schnittstellen zur Integration von handelsüblichen Sensoren und Aktoren,  eine Infrarot-Schnittstelle sowie eine vollständige Entwicklungsumgebung zur Verfügung stellte. Mit anderen Worten ein "zu Ende gedachtes" Mikrocontrollersystem, wie es uns heute, 20 Jahre später, z.B. in Form des Arduino Projekts erst allgemein verbreitet zur Verfügung steht. Dieses Mikrocontrollersystem hat uns in den 99er Jahren und in deren Folge wertvolle didaktische Hilfe bei der Erläuterung und Demonstration von Audio- und Videotechnologien geleistet und bildete die Grundlage für die Errichtung eines Labors für die Radio- und  Fernsehtechniker- Ausbildung.

Nachdem der Versuch so reibungslos funktionierte, lag die Idee nicht fern, diesen auch via Internet einem über die unserer Schule hinaus gehenden interessierten Kreis verfügbar zu machen. Gedacht war da zunächst an eigene interessierte Schüler und Lehrer und an die anderer Bildungseinrichtungen. Dieses Vorhaben scheiterte zunächst erst einmal an der fehlenden Zeit der beteiligten Kollegen – der alltägliche "normale" Unterricht (24 Wochenstunden) will ja auch erst einmal gemacht sein.

Innerhalb des Unterrichts für die Programmiersprache JAVA wurde im Beruflichen Gymnasium die Idee der Programmierung eines Webservers entwickelt, wozu zunächst aber erst einmal die Hardwarevoraussetzungen für die Messdatenerfassung der Probemassen-Bewegung geschaffen werden mussten. Die Wahl fiel dabei (2009) auf ein Embedded-Linux-System der Firma ACME Systems aus Ladispoli, Italien, welches den Java-Webserver, die Sensorauswertung der Skala und die Infrarot - Fernsteuerung der Drehwaage übernehmen sollte. D.h. es musste eine elektronische Skala entwickelt werden, welche die Fotodetektoren zur Strahlerfassung und deren Mess­daten­auswertung, sowie die dazugehörigen C-Bibliotheken enthält. Dasselbe gilt für die IR-Fernsteuerung der Drehwaage (Feld­massen­positionierung + Lasersteuerung). Hinzu kamen noch die Bibliotheken für die Beleuchtungssteuerung des Versuchs, um ihn auch bei Dunkelheit durchführen zu können. - Dieses Webserver-Projekt wurde im Jahr 2012 auch dann von einem Schüler im Rahmen einer besonderen Lernleistung als 'Proof of Concept' in einer schnellen LAN-Umgebung der Schule vorgeführt.

Eine ganz andere Sache ist es dann noch einmal, dies im Internet zu realisieren, da die beiden Video-Kameras, die den Versuch noch begleiten, eine nicht geringe Bandbreite beanspruchen. Er­freu­licher­weise hat uns in der Folge die Stadt Darmstadt eigens dazu einen schnellen Glasfaser-Internet-Zugang verfügbar gemacht, mit dem dann die Tests innerhalb eines zweiten Projekts des Beruflichen Gym­nasiums beginnen konnten. Nach der Internet-Einbindung der beiden WebCams im März 2013 konnten wir dann Anfang des Schuljahres 2013/14 dank der tatkräftigen Unterstützung der zuständigen IT-Abteilungen der Stadt Darmstadt und der Technischen Universität Darmstadt (TUD) online an den Start gehen. Ab 2014 haben wir regelmäßig Probeläufe durchgeführt und dabei die mechatronischen und digitalen Einstellungen soweit verbessert, dass wir zufriedenstellende Beobachtungs- und Mess­ergeb­nisse erzielen konnten.

 

Kritik

Technisch lässt sich an dem Gravitations-Drehwaage-Projekt, heutiger technischer Stand und die bisherigen Erfahrungen damit vorausgesetzt, eigentlich alles besser machen. An erster Stelle wäre der Webserver durch den viel leistungsfähigeren (und viel billigeren) Raspberry 3 ersetzbar. Auch die Schrittmotorsteuerung wäre nicht mehr erste Wahl, obwohl sich die vorliegende Lösung für unsere Zwecke als ausreichend erwiesen hat. So treten beim Positionieren der Feldkugeln vertikale Schwingungen auf, die sich jedoch auf ein erträgliches Maß durch die Wahl einer geeigneten Schritt­geschwin­digkeit minimieren lassen.

Zu überprüfen wäre eine Lösung mit Mikroschrittsteuerung oder eine mit Servomotor, das aber sind Lösungen, die für schulische Verhältnisse ins Geld gehen. An der IR-Fernsteuerung, der Skala mit ihren 64 Fotodetektoren und den dazugehörigen AD-Wandlern und an der Drehwaagen-Elektronik müsste man wohl unter diesen Bedingungen nichts ändern. Eine Aufrüstung der Skala auf 128 Fotodetektoren und AD-Wandler-Kanäle wäre technisch ohne große Probleme möglich.

Die Drehwaage selber gehört nicht wirklich an einen Betonpfeiler, hier bei uns auf einem Stahlchassis in ca. 20 cm Abstand montiert, denn dessen Massen wirken natürlich auch auf die Probemassen der Waage. Ideal wäre natürlich ein Platz, freistehend in der Mitte eines großen Raumes, auf einem superstabilen Betonfundament. Wer die Waage, wie wir, aus Platzgründen, trotzdem an einer Wand oder einen Betonpfeiler befestigen will, sollte überprüfen, ob diese auch frei von Erschütterungen sind. Bei unserer Anordnung ist dies leider nicht der Fall, da die Lüftungsanlage der Schule einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Probemassen hat. Auch hat dies verhindert, die Drehwaage an einem prominenteren Platz, sichtbar für alle Schüler, in der Schulstraße zu montieren. Daher wurde ab 2012 als Standort für die Aufhängung der Drehwaage ein peripherer Betonpfeiler in einem Laborraum (Raum 314) an einer der Außenseiten des Gebäudes gewählt. Hier war zwar der Einfluss des alltäglichen Schulbetriebs wie Erschütterungen durch Schülerbewegungen vor und nach dem Unterricht oder durch die Lüftungs­anlage nicht so stark zu spüren, dafür mussten an diesem Standort stärkere Temperatur­schwankungen insbesondere in den wärmeren Jahreszeiten in Kauf genommen werden.

 

Perspektiven

Die Webserver-Entwicklung ist Gegenstand von Schülerprojekten und wird sich sicher noch in der Folge durch die Überprüfung verschiedener Technologien stark ändern.

Darüber hinaus könnte man natürlich die Webpräsentation des Versuchs innerhalb von kleinen Schüler­projekten des Sprachunterrichts mehrsprachig machen, die Messungen der Gravitations­konstante im Physikunterricht auf ihre Aussagekraft überprüfen oder gar im Mathematikunterricht die Möglichkeit der Auswertung über die Schwingungsdauer mit Hilfe der Fast-Fourier-Transformation. Die Nutzung des Versuchs durch Schulen bzw. Schüler im Ausland könnte die Möglichkeit sachbezogener und lebendiger internationaler Schul-Kontakte eröffnen.

Im Schuljahr 2021/22 musste unsere Gravitationsdrehwaage wegen bevorstehender umfangreicher Umbauarbeiten im Berufsschulzentrum Nord außer Betrieb genommen und abgebaut werden. Sie sollte nach Abschluss der Bauarbeiten an einem anderen Standort in der neu gestalteten Heinrich-Emanuel-Merck-Schule wieder aufgebaut werden. Am 12.02.2024 konnte unsere Gravitationsdrehwaage in einem der neuen Physikräume an der Nordseite des Berufsschulzentrums (Raum A 0.05) wieder auf einer der Betonträgersäulen zunächst provisorisch montiert werden. Inzwischen sind auch Stromversorgung und Netzwerkdosen ortsnah installiert worden. Die endgültige Positionierung und Inbetriebnahme steht noch aus. Wenn alles gut geht, könnte die webgesteuerte Gravitationsdrehwaage der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule nach 2-jähriger Pause im Laufe des ersten Halbjahres des Schuljahres 2024/25 wieder in Betrieb gehen.

Webcam Drehwaage
Webcam Skala