• Entwicklungsgeschichte der Torsionsdrehwaage

Dass der Geologe John Michell (Bild 1) Ende des 18. Jahrhunderts auf die Idee kam, ein hoch­em­pfind­liches Messgerät zur Bestimmung extrem kleiner Kräfte zu entwickeln, ist aus verschiedenen Gründen kein Zufall. Zum einen war er wissenschaftlich schwerpunktmäßig mit der Erdbebenforschung (Seis­mologie) beschäftigt. Als deren Mitbegründer und Förderer war ihm wohl klar, dass er mit einer hoch­empfind­lichen Kraftmesseinrichtung selbst kleinste Erschütterungen der Erde hätte erfassen können, um so die Methoden zur Voraus­sage von Erdbeben auf eine solidere empirische Basis zu stellen. Zum anderen war er als Mitglied der Royal Society fraglos auch durch die von Newton ausgelöste rege Forschertätigkeit über Fragen der An­wendung der Newtonschen Theorie in der Astronomie und zur Begründung des helio­zen­trischen Weltbildes inspiriert.

Zur Messung sehr kleiner Kräfte hatte Michell etwa 1783 einen Messapparat in Form einer Torsionsdrehwaage (siehe Bild 2) konzipiert. Seinen Enwurf hatte er kurz vor seinem Tod 1793 fertig­gestellt und unter anderem die Möglichkeit der Bestimmung der Masse der Erde erwogen, selbst aber noch keine Messungen damit durchgeführt. Dass seine Idee dennoch eine bedeutsame Anwendung gefunden hat, verdanken wir der Tatsache, dass John Michell fast sein gesamtes Leben mit Henry Cavendish (Bild 3) befreundet war. Beide waren Mitglieder der Royal Society. Insofern war es naheliegend, dass sie sich auch über ihre Forschertätigkeit wissenschaftlich austauschten.[1] Für Cavendish war die Drehwaage seines Freundes Michell geradezu ein Geschenk des Himmels, denn auch er wollte wie zuvor Michell die Masse der Erde bestimmen. Cavendish jedenfalls griff die Idee  Michells dankbar auf und ver­besserte dessen Versuchs­anordnung soweit, dass er in den Jahren 1797 und 1798 zusammen mit seinem Assistenten George Gilpin ein Experiment durchführen konnte, das in die Geschichte der Physik als Cavendish-Experiment einging, auch wenn das Konstruktionsprinzip eigentlich von John Michell stammte.

Cavendish selbst hatte mit Nachdruck auf die Urheberschaft seines Freundes Michell verwiesen und in seinem bis heute von der Fachwelt viel beachtetem Bericht über sein Experiment betont, dass Michell die Idee einer Torsionsdrehwaage schon vor Coulomb hatte. Charles Augustin de Coulomb (1736–1806) hatte offenbar ohne Kenntnis der Michell-Konstruktion eine Torsionsdrehwaage entwickelt, die er bereits 1784 und damit vor Cavendish erfolgreich bei der Bestimmung kleiner Kräfte zwischen ruhenden elektrischen Ladungen eingesetzt hat. Er konnte damit die Richtigkeit das von ihm über einen spekulativen Analogieschluss zum Newtonschen Gravitationsgesetz entworfene und nach ihm benannte Coulombsche Gesetz anschaulich bestätigen.[2] Cavendish verweist in einer Fußnote seines Berichts auf die zahlreichen Versuche Coulombs mit einer Drehwaage, ohne jedoch näher auf dessen Bericht einzugehen.[3]

Cavendishs Verbesserungen des Entwurfs von Michell zielten vor allem auf eine Minimierung von Störfaktoren.[4] Mit seiner Konstruktion (Bild 5) wollte er  insbesondere den negativen Einfluss selbst kleinster Temperaturschwankungen sowie den mechanischer Erschütterungen wie Luftströmungen wirksam einschränken. Zu diesem Zweck platzierte er den eigentlichen Versuchsaufbau in einem hermetisch abgeschlossenen Raum. Vom Nebenraum aus bediente und beobachtete Cavendish den Ablauf seines Experiments mit einem Fernrohr (siehe Bild 4). Gemessen wurde die Winkel-Auslenkung eines an einem Torsionsfaden aufgehängten Balkens, an dessen zwei Enden sich kleine Bleikugeln befanden, die von sich in unmittelbarer Nähe befindlichen größeren Bleikugeln angezogen wurden. Die Kraft wurde nach dem Hookeschen Gesetz proportional zum Auslenkungswinkel angenommen, mit dem Torsions­koeffizienten als Proportionalitätsfaktor. Letzterer wurde aus der Eigen­schwingungsperiode des am Torsionsfaden aufgehängten Balkens bestimmt. Messergebnisse und sonstige Angaben zur Bestimmung der Gravitationskonstante aus den Daten des Cavendish-Experiments von 1798 hat Carl Ramsauer 1953 zusammengestellt, nachgerechnet und kommentiert.[5]

 


[1]  Belegt ist die intensive wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen John Michell und Henry Cavendish durch einen Brief, den Michell 1783 an Cavendish schrieb und der in den Philosophical Transactions of the Royal Society veröffentlicht wurde.

[2]  Vgl. dazu die 1785 von Charles Augustin de Coulomb veröffentlichte »Vier Abhandlungen über die Elektricität und den Magnetismus«

[3]  Cavendish hat den Aufbau, die Durchführung und die Ergebnisse seines Experiments in einem ausführlichen Bericht in den Philosophical Transactions of the Royal Society im Jahre 1798 unter folgendem Titel publiziert: Cavendish, Henry: Experiments to determine the Density of the Earth vom 21. Juni 1798, Philosophical Transactions of the Royal Society, Volume 88, 31. December 1798, S. 469-526. Deutsche Version: Henry Cavendish: Experimente zur Bestimmung der Dichte der Erde. London, 21. Juni 1798. Übersetzung des Cavendish-Berichts ins Deutsche (mit Erläuterungen) von Jochen Sicars 2024. Übrigens: Der Hinweis auf Coulomb findet sich in dem Cavendish-Bericht in der Fußnote auf S. 470.

[4] Ein Hauptproblem sah Cavendish in den störenden Einflüssen von temperaturbedingten Luftströmungen. Dazu bemerkt Cavendish: »Da ich von der Notwendigkeit überzeugt war, mich vor dieser Fehlerquelle zu schützen, beschloss ich, den Apparat in einen Raum zu stellen, der ständig geschlossen bleiben sollte, und die Bewegung des Arms (Pendelarms) von außen mittels eines Teleskops zu beobachten und die bleiernen Gewichte (WW) so aufzuhängen, dass ich sie bewegen konnte, ohne den Raum zu betreten. Dieser Unterschied in der Art der Beobachtung machte es notwendig, einige Änderungen an Herrn Michells Apparat vorzunehmen; und da es einige Teile davon gab, die ich für nicht so bequem hielt, wie man es sich wünschen könnte, entschied ich mich, den größten Teil davon neu zu machen.« (Cavendish, a.a.O., S. 471 – Übersetzung: J.S.).

[5]  Ramsauer, Carl: Mittlere Erddichte (Gravitationskonstante – Cavendish 1798), in: ders.: Grundversuche der Physik in historischer Darstellung, Erster Band: Von den Fallgesetzen bis zu den elektrischen Wellen, Berlin Göttingen Heidelberg 1953 (Springer), S. 19-26. Download als pdf-Datei.

 

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Bild 1: John Michell
(1724-1793)

Bild 2: Prinzip der Torsions­drehwaage

Bild 3: Henry Cavendish
(1731–1810)

Bild 4: Cavendish-Experiment (vereinfachte Darstellung)

Bild 5: Cavendishs Konstruktionszeichnung seiner Drehwaage von 1798 

Bild 6: Caven­dish-Experiment: Nachbau des Science Museum London