Gravitation – Eine kurze Einführung in ein komplexes Thema
Die Schwerkraft (Gravitationskraft) ist die schwächste aller physikalischen Elementarkräfte, ihre Reichweite indessen ist unendlich, sie ist nicht abschirmbar und daher im gesamten Universum wirksam. Sie ist die »Königin aller Kräfte«, heißt es in der TV-Dokumentation Die Schwerkraft – Dirigentin der Welt.
Dass ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält.
Johann Wolfgang v. Goethe
Faust · Der Tragödie erster Teil · 1808
1. Drei (fast) alltägliche Wahrnehmungen
Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf drei Wahrnehmungen, die alle gleichermaßen einen Bezug zur Erde haben:
- Ein Stein fällt zur Erde.
- Ein Pinguin ruht als Antipode am Südpol auf der Erde.
- Der Mond bewegt sich auf einer kreisförmigen Bahn um die Erde.
In der folgenden Darstellung soll versucht werden, Antworten auf Fragen zu formulieren, die sich auf die Ursachen dieser drei Wahrnehmungen beziehen.
- Warum fällt der Stein zur Erde?
- Warum fallen der Pinguin und andere Antipoden nicht nach unten?
- Warum fällt der Mond nicht auf die Erde?
2. Aristoteles: Auf der Erde gelten andere Gesetze als am Himmel.
Zunächst die antiken Antworten. Die für die Folgezeit bedeutsamsten gab der griechische Philosoph Aristoteles (384 – 322 v.Chr.). In der Hochzeit der griechischen Antike entwickelte er in seiner Mechanik eine erste systematische Darstellung der Bewegungen und ihrer Ursachen (siehe Bild 2). Damit trug Aristoteles ganz wesentlich zur Begründung des geozentrischen Weltbildes bei (siehe Bild 3). Es wurde etwa 450 Jahre später von Claudius Ptolemäus (ca. 100 – 180 n. Chr.) weiterentwickelt und war im Mittelalter prägend für die herrschenden Vorstellungen über den Aufbau der Welt, insbesondere in der katholischen Kirche. Ideologisch diente es der Rechtfertigung der hierarchischen Feudalordnung in Kirche und Gesellschaft.
Warum fällt der Stein zur Erde?
Aristoteles: Jeder schwere Körper strebt nach seinem natürlichen Ort. Der natürliche Ort aller schweren Körper ist die Erde. Sie ist der ruhende Mittelpunkt der Welt. Die Erde (griech. geos) ist damit zugleich das Zentrum aller Bewegungen am Himmel. Daher wird das Weltbild des Aristoteles auch als »geozentrisches« Weltbild bezeichnet (siehe Bild 2).
Warum fällt der Pinguin nicht nach unten?
Aristoteles: Die Erde ist eine Kugel. Überall gilt das Gesetz über die schweren Körper. Als schwerer Körper bleibt deshalb auch der Pinguin am Südpol auf der Erde, weil die Erde auch für ihn der natürliche Ort ist.
Warum fällt der Mond dann nicht zur Erde, obwohl er doch auch ein schwerer Körper ist?
Aristoteles: Für den Mond und alle übrigen Himmelskörper und deren Bewegung gelten andere Gesetze. Die Körper im Himmel (im translunaren Teil der Welt, also in dem Raum jenseits des Mondes) sind geheftet an eine Art Kristallkugeln aus einem unsichtbaren, göttlichen Stoff, die sogenannten Sphären. Diese Sphären und die daran befestigten Himmelskörper werden durch einen »unbewegten Beweger Gott« in Bewegung gehalten. Deshalb kann sich der Mond auch nicht von seiner Bahn entfernen.
3. Zwischenbetrachtung: Die kopernikanische Wende
In der Renaissance wurde nicht nur die Bedeutung des kulturellen Erbes der griechischen Antike neu in den Blick genommen. In der Physik äußerte sich dieser Rückblick in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Mechanik und dem Weltbild des Aristoteles. Die Protagonisten waren insbesondere Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Giordano Bruno (1548– 1600), Johannes Kepler (1571–1630) und Galileo Galilei (1564–1642).
Bei Ptolemäus finden sich die Übel, bei Kopernikus ihre Heilung.
Nikolaus Kopernikus (1473–1543):
Die Erde ist nicht der ruhende Mittelpunkt der Welt, sondern bewegt sich wie auch die anderen Planeten um die Sonne. Gleichzeitig rotiert die Erde um ihre eigene Achse. Die Sonne (griech. helios) steht im Zentrum dieses Weltbildes, daher die Bezeichnung heliozentrisches Weltbild (Bild 4).
Johannes Kepler (1571–1630):
1. Gesetz: Die Planeten bewegen sich auf ellipsenförmigen Bahnen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. 2. Gesetz: Der »Fahrstrahl« von der Sonne zum Planeten überstreicht in gleichen Zeiten gleich große Flächen. 3. Gesetz: Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen (Kuben) der großen Bahnhalbachsen (Bild 5).
Galileo Galilei (1564–1642):
Bewegung ist nicht gleich Bewegung. Es ist zu unterscheiden zwischen gleichförmiger und beschleunigter Bewegung (Bild 6). Zur Erde frei fallende Körper wie der Stein in Bild 1 führen eine beschleunigte Bewegung aus. Was die Ursachen anbelangt, unterscheidet Galilei zwischen Bewegungen von Körpern, die durch Kräfte hervorgerufen werden, die von außen auf den Körper wirken, oder bei bewegten Körpern sorgt die ihnen innewohnende Trägheit für eine Aufrechterhaltung der Bewegung, auch wenn keine äußeren Antriebskräfte auf ihn wirken (Trägheitsprinzip).
4. Newton: Auf der Erde und am Himmel gelten die gleichen Gesetze.
Isaac Newton (1643 – 1727):
Alle drei Erscheinungen lassen sich auf ein Prinzip zurückführen – die Gravitation, die Anziehungswirkung zwischen Körpern aufgrund ihrer Masse. Alle Massen ziehen sich gegenseitig an, so auch die Erde den Stein, den Pinguin und den Mond. Deshalb fällt der Stein zur Erde, der Pinguin bleibt am Südpol und der Mond verschwindet nicht im Weltall.
Warum aber fällt der Mond denn nicht auch zur Erde? Weil er in jedem Moment noch eine zweite Bewegung ausführt, eine gleichförmige Bewegung tangential zu seiner Umlaufbahn aufgrund seiner Trägheit gemäß dem 1. Axiom von Isaac Newton (1643-1727). Mit seinen Erklärungen der Mondbewegungen greift Newton übrigens auf eine Idee seines Landsmannes Robert Hooke zurück.[1]
Wie kam Newton auf diesen Gedanken, dass die Erde eine Anziehungswirkung auf andere Körper ausübt?
Dazu ein Gedankenexperiment aus dem Hauptwerk von Newton (Bild 7):
Wirft man einen Stein von der Spitze eines hohen Berges, so bewegt er sich entlang einer parabelförmigen Bahn zur Erde (im Bild 7 von dem Berggipfel V zum Beispiel zu dem Erdpunkt D). Erhöht man die Abwurfgeschwindigkeit, so wird seine Wurfbahn zwar länger (z. B. von V nach F), gleichwohl landet er wieder auf der Erde.
Spekulation Newtons: Ist die Abwurfgeschwindigkeit nur hoch genug, dann fällt der Stein nicht mehr zur Erde, sondern bewegt sich auf einer geschlossenen Bahn um die Erde herum (Bild 7: auf der Kreisbahn von V nach V).
Damit führt Newton die Fallbewegung zur Erde und den Umlauf um die Erde auf ein und dieselbe Ursache zurück.
Verantwortlich ist in beiden Fällen die Erde. War nur noch zu klären, welche Eigenschaft der Erde ihre anziehende Wirkung auf andere Körper verursacht? Lässt sie sich auf ihre magnetischen Eigenschaften zurückführen, wie dies Kepler vermutet hatte? Die Antwort von Newton sah anders aus: Ihre Masse ist der Grund für die Anziehungswirkung auf andere Körper. Dann aber, so die Schlussfolgerung Newtons, müsste auch umgekehrt, der angezogene Körper mit seiner Masse ebenfalls eine Anziehungswirkung auf den jeweils anderen Körper hervorrufen.
Fazit von Newton:
Alle Körper ziehen sich aufgrund ihrer Masse gegenseitig an.
Newton führt diese Wechselwirkung auf die »Schwere« (lat. gravitas) der Körper zurück. Daher die Bezeichnung Gravitation. Die Schwere eines Körpers ist nach Newton abhängig von der in ihm enthaltenen Menge an Materie. Er fasst diese Eigenschaft unter den Begriff der Masse, die ihrerseits zugleich das Gewicht eines Körpers bestimmt (Principia, S. 21).
Worin äußert sich nun die Anziehung? Der angezogene Körper wird beschleunigt. Das gilt für den fallenden Stein genauso wie für den Mond, denn Newton konnte zeigen, dass die Bewegung auf einer Kreisbahn immer auch eine beschleunigte Bewegung hin zum Zentrum der Kreisbahn ist. Insofern muss auf die so beschleunigten Körper nach dem 2. Axiom von Newton eine Kraft wirken. Wie läßt sich nun die Größe dieser Kraft bestimmen? Dazu mehr auf der Seite über das Gravitationsgesetz.
[1] Vgl.: Cohen, Isaac Bernhard: Newtons Gravitationsgesetz – aus Formeln wird
eine Idee, in: Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981, S. 101 – 111.
5. Die Idee von Henry Cavendish (1731–1810)
Newton verallgemeinerte das Prinzip der Massenanziehung, indem er davon ausging, dass alle Körper sich gegenseitig anziehen, so auch »irdische Körper«, auch wenn deren gegenseitige Anziehung unserer alltäglichen Wahrnehmung nicht zugänglich ist. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Massenanziehungskräfte bei »irdischen Körpern« aufgrund der vergleichsweise geringen Massen »unmerklich« klein seien und »keine bemerkbaren Wirkungen hervorbringen« (Newton: Principia, Über das Weltsystem, § 22) würden.
Henry Cavendish griff diesen Gedanken auf und konzentrierte sich fortan auf die Frage, wie solch extrem kleinen Anziehungskräfte zwischen zwei irdischen Körpern gemessen werden könnten. Dieser Bemühungen führten dann 1798 zu dem berühmten Cavendish-Experiment (Bild 9). Die von Cavendish zur Messung der sehr kleinen Gravitationskräfte zwischen irdischen Körpern verwendete Torsionsdrehwaage stellt zugleich die Vorlage für die in unserem Experiment verwendete Gravitationsdrehwaage dar. Dazu mehr auf der Seite über das Cavendish-Experiment.
Download
- Gravitation – Einführung in ein komplexes Thema als pdf-Datei
The Weighing House (1763)
Zeitgenössische Karikatur gegen eine blindgläubige Anhängerschaft der Gravitationstheorie
Bild 1: Drei Körper in der Umgebung der Erde
Bild 2: Bewegungsklassen nach Aristoteles
Bild 3: Geozentrisches Weltbild des Aristoteles und Ptolemäus
Bild 4: Heliozentrisches Weltbild des Kopernikus
(ohne die später entdeckten Planeten Uranus und Neptun)
Bild 5: Keplersche Gesetze
Bild 6: Galileis Bewegungsformen
Bild 7: Newtons Bahnen geworfener und umlaufender Körper
Bild 8: Alle Körper ziehen sich gegenseitig an
Newton: »Sind endlich alle Körper in der Umgebung der Erde gegen diese schwer, ... so muss man nach dieser Regel behaupten, dass alle Körper gegeneinander schwer seien.«
(Principia, S. 381)
Bild 9: Cavendish-Experiment (1798)