• Anwendungsbeispiele zum Gravitationsgesetz

1. Entdeckung des Planeten Neptun

Ein erster spektakulärer Beweis für die Leistungsfähigkeit der newtonschen Gravi­ta­tions­theorie war deren Anwendung im Vorfeld der Ent­deckung des Planeten Neptun. Der 1781 von Wilhelm Herschel entdeckte Planet Uranus zeigte bei genaueren Be­ob­achtungen seiner Umlaufbahn zum Teil erhebliche Abweichungen von der berechneten Bahn. Der französische Astronom Urbain Leverrier (1811 – 1877) [1] folgerte aus der Kennt­nis dieser astro­nomischen Befunde und aus eigenen Berechnungen, die er auf der Grundlage der newtonschen Gravitations­theorie durch­führte, dass es noch einen weiteren Planeten geben müsse, der diese  Bahnstörungen des Planeten Uranus verursachte. Er gewann den deutschen Astronomen Johann Gottfried Galle (1812-1910) für seine Idee. Galle war an der Sternwarte Berlin tätig und fand tatsächlich 23.9.1846 einen neuen Planeten in unmittelbarer Nähe der von Leverrier voraus­berechne­ten Postion. Diese Entdeckung des Planeten Neptun war »ein überragender Erfolg der Gravi­tations­theorie Newtons[2]

Auf die Methode, von beobachteten Bahnabweichungen eines Planeten auf die Existenz eines weiteren, bis dahin noch nicht entdeckten Himmelskörpers zu schließen, hat Newton in seinen »Principia« selbst hingewiesen. Er schätzte zwar »die gegenseitigen Einwirkungen der Planeten« im Vergleich zum Ein­fluss der Sonne auf die Planeten als »unbedeutend« ein, machte aber gleichwohl für Bahn­ab­weichungen wie etwa die des Saturn andere Himmelskörper verantwortlich. So vermutete Newton in der Umgebung des Saturn den Einfluss von Kometen auf dessen Bahn.[3]

Richard Feynman sieht in der Entdeckung des Neptun auf der Basis des Gravitationsgesetzes ein Indiz dafür, dass ein sol­ches »Gesetz, wenn es richtig ist, zum Aufspüren eines anderen benutzt werden kann.«[4] Diese Aussage ist als prinzipielle Entwicklungsmöglichkeit sicherlich zutreffend. Spekulativ hingegen ist seine Verknüpfung des Gravitationsgesetzes mit der Entdeckung der Lichtgeschwindigkeit: »Hätten wir das Gesetz von der Schwerkraft nicht erkannt und mithin nicht ge­wußt, was wir von den Jupiter­monden zu erwarten haben, hätten wir viel länger gebraucht, um die Lichtge­schwindigkeit zu berechnen.« Kritikwürdig ist insbesondere die als Konkretisierung gedachte Behauptung über die astro­nomischen For­schungen des dänischen Astro­nomen Ole Rømer (1644-1710). Rømer hatte 1676 auf der Grundlage von Beobachtungs­daten über die Jupitermonde nachweisen können, dass die Licht­­ge­schwin­dig­keit endlich sei.[5] Dazu bemerkt Feynman:

»Rømer vertraute dem Gravitationsgesetz ... und kam zu dem interessanten Schluß, daß das Licht eine ge­wisse Zeit braucht, um von den Jupitermonden zur Erde zu gelangen, daß wir im Teleskop also nicht die Monde sehen, wie sie jetzt sind, sondern wie sie vor der Zeit waren, während der das Licht zu uns unterwegs war.«[6]

Offenkundig hat der von uns ansonsten überaus geschätzte Physiker Feynman bei seiner Kom­men­tierung der Arbeiten von Rømer die historische Tatsache übersehen, dass Newton sein Gravitations­gesetz erst etwa ein Jahrzehnt nach der Entdeckung von Rømer veröffentlicht hat. Bleibt noch der Vollständigkeit halber zu erwähnen, dass zwei Jahre später der niederländische Physiker Christiaan Huygens (1629–1695) u.a. mit den Beobach­tungs­daten von Rømer für die Licht­ge­schwin­digkeit einen Wert von 212 222 km/s berechnet hat.[7]

Zurück zur Entdeckung des Planeten Neptun im Jahre 1846. Dieser historische Hinweis hat in jüngster Zeit einen hochaktuellen Bezug erhalten: Mit ähnlichen Methoden, wie sie Leverrier unter Bezug auf die Newtonsche Gravitationstheorie angewendet hat, wurden deutliche Anzeichen dafür gefunden, die die Existenz eines weiteren Planeten in unserem Sonnensystem als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen. Im Wissenschaftsmagazin »Science« vom 21.1.2016 wird in einem Artikel über die Forschungen der beiden Astro-Physiker Mike Brown und Konstantin Batygin vom California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena (USA) berichtet. Dort heißt es:

»Jetzt hat er (Mike Brown) sich der Jahrhunderte alte Suche nach neuen Planeten angeschlossen. Seine Methode –folgern der Existenz von Planet X aufgrund der Wirkung seiner geisterhaften Schwer­kraft– hat eine respektable Bilanz. Im Jahr 1846 hat beispielsweise der französische Mathematiker Urbain Le Verrier die Existenz eines riesigen Planeten aufgrund von Unregelmäßigkeiten in der Umlaufbahn des Uranus vorhergesagt. Astronomen an der Berliner Sternwarte fanden den neuen Planeten, Neptun, wo er sein sollte, eine funkensprühende Mediensensation.«[8]


[1]  Vgl. Wolfers, J.Ph.: Vorwort und Erläuterungen, in: Newton, Isaac: Mathematische
     Prinzipien der Naturlehre (Principia), London 1713 (2. Aufl.), Nachdruck: Darmstadt 1963,
     S. VIII und S. 659 sowie Wikipedia: Urbain Le Verrier, Neptun und Johann Galle. Zu ähnlichen
     Ergebnissen kam unabhängig von Leverrier auch der englische Astronom 
     John Couch Adams (1819-1892). Vgl.: auch Feynman, Vom Wesen physikalischer Gesetze,
     München 1993 (Piper) S. 31.

[2]  Kornelius, Martin: Einstein light, München 2005 (DTV), S. 57.

[3]  Newton: Principia

[4]  Feynman, Richard: P., a.a.O., S. 30 f.

[5]  Römer, Olaf: Die Entdeckung und die Berechnung der
     Lichtgeschwindigkeit 1676, Stuttgart 1983 (Belser Verlag).

[6]  Feynman, Richard: P., a.a.O.

[7]  Huygens, Christiaan: Abhandlung über das Licht (Erstausgabe: 1678), Nachdruck in deutscher
     Übersetzung herausgegeben von  Eugen v. Lommel und übersetzt von Rudolf Mewes,
     Leipzig 1890.

[8]  Hand, Eric: Number 9 – A new giant planet, ... beyond Neptune.

     in: Science, 22. Jan. 2016, Vol 351, Issue 6271, pp. 330-333. Science, 22. Januar 2016.  

2. Bestimmung der Masse der Erde

Sind die experimentell zu bestimmenden Werte der Gravitations­konstanten G und der Erd­be­schleunigung g an einem gegebenen Ort bekannt, so lässt sich mit Hilfe des Gravitationsgesetzes und dem zweiten Newton-Axiom die Masse der Erde berechnen. Dazu betrachten wir einen im Vergleich zur Erde kleinen Probekörper mit der Masse m, der an einem bestimmten Ort auf der Erdoberfläche liegt (Bild 16). Vereinfachend stellen wir uns vor, dass sowohl die Erdmasse M als auch die Masse m des kleinen Körpers jeweils in ihrem Mittelpunkt verdichtet seien, so dass beide Körper als Massepunkte betrachtet werden können. Da der Radius der Masse m des kleinen Körpers gegenüber dem Erdradius R vernachlässigbar klein ist, ist der Mittelpunktabstand der beiden Massepunkte et­wa so groß wie der Radius R der Erde.

Die Gewichtskraft FG = m · g eines Körpers mit der Masse m auf der Erdoberfläche ist gemäß dem 2. Newton-Axiom gleich der Anziehungskraft gemäß dem Gravi­ta­tionsgesetz zwischen ihm und der Erde (Masse M). Demnach gilt:


      Gleich. [20]

gegeben sind:  

g = 9,81 m/s² (mittlerer Wert)

R = 6371 km = 6,371 · 106 m (mittlerer Wert)

G = 6,673 · 10-11 m³/(kg · s²)

Lösung:

Die Masse m des Körpers wird aus der Gleichung [20] herausgekürzt und die Gleichung anschließend nach der Masse M der Erde umgestellt:

    Gleich. [21]  

3. Dichte und Fallbeschleunigung der Erde

Nachdem die Masse der Erde bestimmt werden konnte, war es auch möglich geworden, deren mittlere Dichte zu be­stimmen. Denn dazu musste die Masse der Erde lediglich durch deren Volumen dividiert werden. Die Volumen­berechnung setzt allerdings voraus, dass die Erde wieder vereinfacht als Kugel mit einem mittleren Radius R angenommen wird.

gegeben sind:      R = 6371 km = 6,371 · 106 m (mittlerer Erdradius)

                          M = 5,967 · 10 24 kg (Masse der Erde)

Dichte der Erde:

        Gleich. [22]

Fallbeschleunigung:
Zur Bestimmung der Fallbeschleunigung gehen wir wiederum von den bereits unter 2. gewählten Voraussetzungen aus und legen auch hier wieder das Bild 16 sowie die mit Gleich. [20] identische Gleich. [23] als Ansatz zugrunde:

     Gleich. [23]

Hier wollen wir allerdings annehmen, dass unser Probekörper mit der Masse m frei zur Erde fällt. Frei bedeutet hier, dass er sich unbehindert durch irgendwelche Hindernisse frei auf die Erde zubewegen kann. Völlig unbehindert kann er nur fallen, wenn sich ihm keine Materieteilchen in welcher Art auch immer entgegenstellen, und dies wäre uneingeschränkt nur im Vakuum möglich. Unter dieser Voraussetzung können wir die räumlichen Randbedingungen der Fallbewegung außer Betracht lassen und zur Berechnung der Fallbeschleunigung die Gleichung [23] nach g umstellen. Dazu kürzen wir auch hier die Masse des fallenden Probekörpers m heraus und erhalten für die Fallbeschleunigung die Formel:

    Gleich. [24]

Damit lässt sich nicht nur die im erdnahen Bereich (d.h. Fallhöhe h << Erdradius R) wirksame Fallbeschleunigung g berechnen. Zudem erfährt die etwa 50 Jahre vor der Entdeckung des Gravitationsgesetzes von Galilei mit anderen Argumenten behauptete Unabhängigkeit der Fallbeschleunigung von der Masse der fallenden Körper eine physikalische Begründung. »Im Vakuum fallen alle Körper gleich schnell!«, hieß es bei Galilei. Und in der Tat, wenn sich die Masse des frei fallenden Körpers herauskürzen lässt, gilt die Gleichung [24] prinzipiell für jeden frei fallenden Körper, egal welche Masse er besitzt. Damit war zugleich geklärt, dass die Beschleunigung frei fallender Körper nicht von deren Merkmaleigenschaften bestimmt wird, sondern allein von denen des Zentralkörpers, der sie anzieht, d.h. von dessen Masse M und Radius R.

Bleibt noch zu erwähnen, dass die Fallbeschleunigung g zwar mit der Fallhöhe h variiert, weil die An­ziehungskraft nach dem Gravi­tationsgesetz von dem Abstand r = R + h zwischen den Massen m und M abhängig ist. Sie kann jedoch im erdnahen Bereich als konstant angenommen werden, solange die Fallhöhe h deutlich kleiner als der Erdradius R ist (d.h. h << R). Denn damit gilt die in Gleichung [23] vorausgesetzte Annahme, dass r = R, weil h vernachlässigbar klein ist. Die Formel für die Fall­be­schleu­nigung gilt freilich nicht nur für die Erde, sondern prinzipiell für alle anderen Himmelskörper. So können damit beispielweise auch die Fallbeschleunigungen auf den übrigen Planeten unseres Sonnensystems berechnet werden.

4. Bestimmung der kosmischen Geschwindigkeit

Newton hat mit seinem Satelliten-Modell (siehe auch Bild 7 in der Einführung) ge­zeigt, dass ein waagerecht von einem hohen Berg aus geworfener Körper umso weiter entfernt auf der Erde auftrifft, je höher seine Abwurf­geschwin­digkeit v0 ist (siehe Bild 17). Wird die Abwurf­geschwin­digkeit so weit erhöht, dass der Körper gar nicht mehr auf der Erde auftrifft, sondern die Erde umläuft, be­zeich­net man diese Geschwindigkeit als 1. kosmische Geschwindigkeit. Es handelt sich demnach um jene Ge­schwin­dig­keit, auf die ein Satellit mit der Masse m von der Oberfläche eines Zentral­körpers wie z. B. von der Erde aus mindestens beschleunigt werden muss, damit er den Zentralkörper mit der Masse M gerade umkreist. Der Einfacheit halber nehmen wir an, dass der Radius r der Umlauf­bahn des Satelliten nur geringfügig größer sei als der des Zentralkörpers und rechnen mit r = R.

Um den Satellit auf eine Kreisbahn zu zwingen (siehe Bild 18), bedarf es einer zum Mittelpunkt gerichteten Zentri­pe­talkraft Fz deren Betrag sich wie folgt berechnen lässt:

      Gleich. [25]

Erzeugt wird diese Kraft durch die Gravitationswirkung, die der Zentralkörper auf den Umlaufkörper ausübt. Ihr Betrag berechnet sich nach dem Gravitations­gesetz. Erzeugt wird diese Kraft durch die Gravitationswirkung, die der Zentralkörper auf den Umlaufkörper ausübt. Ihr Betrag berechnet sich nach dem Gravitations­gesetz.


       Gleich. [26]

Setzen wir in Gleich. [26] für r = R für FZ = FG (gem. Gleich. [25]), so ergibt sich für die von dem Zentralkörper auf den Satelliten aus­geübte Gravitationskraft:

   Gleich. [27]

Kürzen wir m und einmal R aus der Gleichung [27], und stellen die Formel nach v um, so ergibt sich für die Berechnung der 1. kosmische Geschwindigkeit vk :

 

    Gleich. [28]

Setzen wir in die Gleichung [28] die Masse und den Radius der Erde ein (Werte siehe Punkt 2. oben), so ergibt sich für die Erde folgende 1. kosmische Geschwin­dig­keit:

    Gleich. [29]

Wird die Abwurfgeschwindigkeit weiter erhöht, kann er sich von dem Zentralkörper ent­fernen. Je nach Ge­schwin­dig­keit entsteht zunächst eine elliptische Umlaufbahn, bei weiterer Erhöhung der Ge­schwin­dig­keit verlässt er das Gravitationsfeld auf einer parabel- oder hyperbelförmigen Bahn (siehe Bild 17).

Als 2. kosmische Geschwindigkeit bezeichnet man jene Geschwindigkeit, auf die ein Körper be­schleu­nigt werden muss, um das Gravi­ta­tionsfeld des Zentralkörpers zu verlassen. Sie wird auch Fluchtgeschwindigkeit vF genannt und kann nach folgender Formel berechnet werden.

   Gleich. [30]

Auf die relativ komplexe Herleitung der Formel für die 2. kosmische Geschwindigkeit und auf Hinweise zur 3. kosmischen Geschwindigkeit (Fluchtgeschwindigkeit aus dem Sonnensystem) soll hier aus Platz­gründen verzichtet werden.[1] In der folgenden Tabelle sind ver­schie­dene kos­mi­sche Geschwindigkeiten und die daraus resultierenden Bahnformen (siehe Bild 17) von Bewegungen im Gravitationsfeld der Erde zusammen­gestellt:

Startgeschwindigkeit

Bahnform

Beispiel

v < vK = 7,9 km/s

Körper fällt zur Erde zurück

Rakete bei Ausfall einer An­triebsstufe

v = vK = 7,9 km/s

Kreisbahn

Satelliten auf niedriger Um­lauf­­bahn

vK < v < vF = 11,2 km/s

Ellipse

viele Forschungssatelliten

v = vF = 11,2 km/s

Parabel

Pioneer-Raumsonden

v > vF = 11,2 km/s

Hyperbel

 

Quelle: Hoche, Detlef u.a.: Physik Abitur – Duden Basiswissen Schule, Mannheim 2010 (Duden Verlag), S. 125.


[1]  Vgl. Wikipedia: Fluchtgeschwindigkeit (Raumfahrt) sowie Bindungs­ener­gie.
      Siehe auch LEIFI-Physik: Kosmische Geschwindigkeiten

Bild 14: Urbain Leverrier (1811–1877)

Bild 15: Neptun

im Größen­ver­gleich zu den anderen Planeten (Abstände nicht maßstäblich)

 

 

 

 

Bild 16: Körper mit der Masse m liegt auf der Oberfläche der Erde mit der Masse M

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild 17: Wurfbahnen eines Kör­­pers, der von einem hohen Berg aus waagerecht geworfen wird.

Bild 18: Satellit mit der Masse m umkreist einen Zentral­kör­per mit der Masse M und dem Radius R auf einer Umlauf­bahn mit dem Radius r (ca. = R)