• Kritische Anmerkungen zur Herleitung des Gravitationsgesetzes

Auch wenn bei dieser formalen Herleitung der Eindruck entstanden sein mag, die Kon­stante G im Gravitationsgesetz ließe sich mathematisch bestimmen, muss hier in aller Deutlichkeit betont werden: Die Gravitationskonstante G ist eine Natur­konstante und muss von daher experimentell bestimmt werden.

Wie sich diese Aufgabe durch geeignete Messungen realisieren lässt, wird grundlegend in dem Abschnitt über das Cavendish-Experiment erläutert. Die messtechnische Ermittlung der Gravi­ta­tions­­konstanten G mit modernen Mitteln im Rahmen des Physikunterrichtes ist eines der zentralen experimentellen Anliegen dieses Projekts. Sie wird auf der Seite Ex­periment und Auswerten der Messdaten ausführlich beschrieben.­

Die mathematisch akzentuierte Form der obigen Herleitung legt möglicherweise die Vermutung nahe, dass sich das Gravitationsgesetz ohne Brüche und Widersprüche stringent aus den Newtonschen Axiomen und den Keplerschen Gesetzen deduzieren ließe. Mit seinen Gesetzen hat Johannes Kepler den auf der Grundlage astronomischer Beobachtungen gewonnenen empirischen Befunden eine mathe­matische Form gegeben. Sie sind insoweit empirisch, aber in der Sprache der Mathematik geschrieben und damit gleichsam idealisiert. So bedeutsam die Keplerschen Gesetze für die Entwicklung der Gra­vi­ta­tions­­theorie auch gewesen sein mögen, Kepler selbst gelang es nicht, eine zu­frieden­­stellende physi­ka­lische Erklärung etwa für die Elllipsenbahnen oder die Umlaufzeiten der Planeten zu entwickeln. Zugleich haben Johannes Kepler und andere Astronomen wie Tycho Brahe und Giovanni Domenico Cassini durch ihre akribischen Himmelsbeobachtungen wertvolle empirische Hin­weise geliefert, auf die sich Newton an zahlreichen Stellen seiner theoretischen Darstellung der Himmels­mechanik und der Gra­vi­ta­tion immer wieder bezogen hat.

Während Kepler seine theoretischen Erörterungen im wesentlichen mit empirischen Befunden und eher zahlen­mystischen Deutungen zu begründen suchte, beruhen die Erklärungen von Newton auf seinen allein durch theoretische Reflexionen gewonnenen Axiomen, insbesondere auf der physi­kalisch nicht weiter begründbaren, von Galilei bereits einige Jahrzehnte zuvor erörteten Speku­lation einer kräfte­freien Bewegung, nämlich die der gleich­förmigen und geradlinigen Träg­heits­bewegung. In einem Universum, des­sen Zusammenhalt durch Gravitationskräfte bewerkstelligt wird, gibt es keinen Körper, auf den keinerlei Kräfte wirken. Gleich­wohl war diese Spekulation zwingend not­wendig, um die Widersprüche in der aristotelischen Mechanik zu überwinden (siehe dazu die historischen Hinweise in der Einführung zu unserer Theorie-Seite). Diese ebenso geniale wie kreative, aber auch mutige Abstrak­tions­leistung und die daraus erwachsene Erarbeitung einer ersten, in sich schlüssigen physi­ka­lischen Theorie im Sinne der modernen Natur­wissenschaft sowie deren erfolgreiche An­wen­dung auf empirische Gegenstände wie die Massen­an­ziehung in der mathematischen Form des Gravi­ta­tions­gesetzes, waren die herausragenden histori­schen Leistungen Newtons.

Für Newton war es nicht einfach, sich mit seinen Prinzipien der Mechanik in der damaligen Wissen­schaftler­gemeinschaft durchzusetzen. Die nur sporadischen Hinweise auf den »prak­tischen Nutzen« und die spärlichen Bezüge auf »experi­mentelle Beweise« in den »Principia« widersprachen den Wissenschafts­idealen der Royal Society, die seinerzeit in England die entscheidende Instanz für die Anerkennung und Herausgabe natur­wissen­schaftlicher Publikationen war.[1] Der Unterstützung und dem uner­müd­lichen Einsatz Edmond Halleys (1656–1742), der 1682 den nach ihm benannten Kometen entdeckte, war es zu verdanken, dass Newton sein Werk 1687 unter der Heraus­geberschaft der Royal Society 1687 in Druck geben konnte.

Allgemeine An­er­ken­nung gefunden hat die Newtonsche Theorie allerdings erst, als sie sich auch in prak­tischen An­wendungs­zusammenhängen als leistungsfähig und effektiv erwies. Einige solcher Anwendungsbeispiele zum Gravitationsgesetz sind im Folgenden zusam­mengestellt.


[1]   Vgl. Guicciardini, Niccolò: Isaac Newton – Ein Naturphilosoph und das System der Welten, Bellone, Enrico (Hrsg.): Die Großen der Wissenschaft, in: Spektrum der Wissenschaft Biographien, Heft 1/1999, S. 53 f. sowie Duhem, Pierre: Ziel und Struktur physikalischer Theorien (Erstausgabe 1908), Hamburg 1998, S. 298 und ff.



Fortsetzung: Anwendungsbeispiele zum Gravitationsgesetz